OrdellRobbie - Kommentare

Alle Kommentare von OrdellRobbie

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    OrdellRobbie 06.01.2024, 20:57 Geändert 07.01.2024, 14:11

    Scorsese und Thelma Schoonmaker inszenieren die Kampfszenen mit einer auditiven Wucht, seinem Hang zu visueller Finesse. In kurzen, gedehnten Augenblicken speit das Gesicht fontänenartig Blut aus, Schweiß trieft aus allen Poren. Wasser wird über das Gesicht gegossen, fließt über den muskulösen Oberkörper Jakes. Scorsese evoziert Taufe, erhöht die Reinigung und Waschung zum sakralen Ritus und verleiht den ansonsten eher belanglosen Ringkämpfen eine beachtliche Intensität. Vergleichbar mit der transzendenten Wirkung des Minimalistischen bei Robert Bresson. Vielleicht sein sinnlichster Film in der Betonung des viszeral Leiblichen.

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      Natürlich lässt es sich einfach machen und Saltburn als reine Provokation abtun. Seine entsprechenden Szenen bieten genügend Reibungsfläche, um Aufsehen zu erregen. Doch auch die sind ohne ihren filmischen Kontext unbrauchbar und wirkungslos. Fennell spürt dem diffusen Begehren nach, das seine Kreise in der britischen Adelsgesellschaft zieht. Ihr Drehbuch ist um falsche Fährten herum konstruiert. Einer Klassenanalyse ist sie sich jedoch zu schade, dafür ist das zu überspitzt. Ihr kluger Einsatz von Popkultur bleibt wohl ihre stärkste, weil spannendste Waffe. Saltburn ist bitterböse. Reduziert man ihn auf sein Ende, könnte er wahrlich klassistische Züge annehmen. Dafür muss aber der ganze Rest, die emotionale und sexuelle Ausbeutung, willentlich ausgeblendet werden. Ist das nun plump-reaktionäre »eat-the-rich«-Fantasie oder moderne Lesart von »Teorema« im Gothic-Look, versetzt in die early 2000s?

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        Kein Biopic, sondern verfilmte Memoiren. Coppola erzählt nicht etwa "von" Priscilla Beaulieu, sondern "durch" sie, aus ihrer Perspektive. Von ihrer Anwerbung auf einem westdeutschen Militärstützpunkt bis ins goldene Gefängnis von Graceland, wo sie auf ihren tourenden, schauspielernden Gatten wartet. Das ist alles nichts Neues, gäbe es da nicht von Coppola einen inszenatorischen Spin verpasst. Elliptisch, fragmentarisch kommt Priscilla daher. Szenische Anordnungen werden wiederholt, der Zyklus von Gaslighting und Manipulation durch Elvis enger geschnallt, in statische Kompositionen und dämmrige Bilder überführt. Ihre eigentliche Charakterisierung bleibt hingegen blass. Priscilla gerinnt zum leisen Horrorfilm, der nie so tun muss, als ob. Er ist beunruhigend ganz ohne Spezialeffekte, ohne bedrohliches Sound-Design.

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          Statt einer klischeebeladenen Romanze zweier Gestrandeter in den Tropen lässt Denis ihre Figuren durch ein Labyrinth irren, das erst allmählich an Konturen gewinnt. Die Lage bleibt undurchsichtig für einen Großteil der zweistündigen Laufzeit. Ohne klassische historische Einordnung wird das Paar scheinbar unbeteiligt in ungeahnte politische Spannungen geworfen. Die latente Bedrohungskulisse einer nicaraguanischen Revolution schwebt über allem. Ohne konkrete Zeitlichkeit flottiert »Stars at Noon« zwischen den Zeiten, atemporal und doch im linearen Erzählfluss verankert. Denis wählt eine radikale, in Teilen entrückte Subjektive, die in der fast dokumentarisch-fluiden Kamera zum Tragen kommt und mehr an Spuren als Ergebnissen interessiert ist: Trish (Margaret Qualley) versucht vergebens, dem bürgerkriegsähnlichen Zustand zu entfliehen. Ganz beiläufig thematisiert sie die Covid-Pandemie, Metapher einer globalisierten Welt, die ein kapitalgetriebenes Netzwerk installiert hat. Dabei mäandert der Film, wie seine beiden Hauptfiguren, ziellos zwischen romantischem Thriller und Sensualismus. Komplementiert vom Tindersticks-Soundtrack, einer Mischung aus Ambient und experimentellen Jazz-Versatzstücken: träumerisch, verträumt und melancholisch.

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            OrdellRobbie 01.11.2023, 17:36 Geändert 18.11.2023, 04:05

            Doppelgänger, die Nazigeneration und Parallelwelten in den Schweizer Alpen. Johannes begegnet einer Pianistin, die mehr Phantom als physische Präsenz scheint und jagt ihren Spuren wie besessen hinterher (gemäß der Formel "cherchez la femme"). Hitchcocks »Vertigo« klingt an. In den verspiegelten Gängen des barocken Grand Hotel trifft man sich wieder. Erinnerungen werden abgefragt. Unmögliche Erinnerungen. Mindestens ein paar visuelle Clues verweisen unmissverständlich auf Alain Resnais‘ Nouveau-Roman-Adaption »Letztes Jahr in Marienbad«. Timm Krögers High-Contrast-Noir oszilliert zwischen wahnwitziger Multiversen-Theorie und Paranoia Thriller der 1960er. Multiversen sind ohnehin nur ein Aufhänger eines labyrinthisch angelegten, mit allerhand Genreversatzstücken und Stimmungen versehenen Vexierspiels. Wenn auch der zwanzigminütige Epilog kein einziges Mal Interesse zeigt, das diffuse Spiel zu entwirren, verfängt sich Kröger nie ganz. Nicht einmal der abstruse Sci-Fi-Plot (der sogar noch als italienische B-Produktion gedoppelt wird) kann ihn aufhalten, den Lebensweg seiner tragischen Hauptfigur zu Ende zu führen.

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              OrdellRobbie 30.09.2023, 00:38 Geändert 01.10.2023, 22:47
              über Barbie

              Dafür dass Barbie von Ultrarechten in Amerika als „woke“ angefeindet wird, bleibt Gerwigs filmisches Denkmal der Puppe doch erschreckend konservativ. An Barbie, dem Spielzeug, sollen nun alle inneren Kulturkämpfe, alle Probleme unserer Zeit ausgefochten werden. Und man merkt es dem Film an, dass er die teils widersprüchlichen Ideen der kulturellen Ikone Barbie – ihre Form von Weiblichkeit, (Norm-)Schönheit, Abweichung, Differenz und Sexismus – in irgendeiner Form integrieren wollte, sie förmlich zu explizieren beginnt. Barbie ist ein Diskurs-Film, mit hohen Erwartungen betraut, aus einem Diskurs-Pool schöpfend, der aber selbst keine dialogische Struktur eröffnet, sondern sein Publikum anbiedert, um scheinbar moralische Bedürfnisse zu erfüllen. Barbie will behagen, es jedem Recht machen, also bestimmt keine Geschlechterverhältnisse stören, ausbrechen, gar subversiv sein. Denn am Ende steht der gleiche versöhnlich-verweichlichte Kitsch, der von Disney kultiviert wurde und hier also nur einer kollektiven Selbstbestätigung gleichkommt ("this is feminism 101"). Unoriginelle Meta-Witzchen sollen von der intellektuellen Gehaltlosigkeit hinwegtäuschen. Maximale Verblendung garantiert.

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                Erinnerungen aus dem gemeinsamen Türkeiurlaub der 90er blitzen auf, die DV-Aufnahmen werden zurückgespult: Er, viel zu früh Vater geworden, sie, ein aufgewecktes Mädchen, das ein Videotagebuch führt. Charlotte Wells erstaunliches Debüt hält einen zentralen Konflikt in der Schwebe, der in wenigen Momenten seinen Weg nach außen bahnt, sich aber nie in seiner Konkretheit fassen lässt. Ihr Kino beruht nicht auf linearem Erzählen, sondern behandelt den eintönigen Alltag gleichberechtigt mit Träumen, Assoziationen und möglichen Szenarien, die kaum unterscheidbar nebeneinander stehen. Trauer und Depression sind gesichtslos, fügen sich schleichend in den Alltag ein, der immer die strahlende Fassade aufrechterhalten möchte. Der Vater zu seiner Tochter. »Aftersun« lullt in seine bittersüßen Fragmente, möchte sensorisches Erlebnis sein, den Blick freimachen und auf den Schmerz hin öffnen: die Augen geschlossen, bewegungslos; eine Müdigkeit, die sich inzwischen auf das Leben ausgeweitet hat und nun an Calums geistiger Verfassung zehrt. Der Blick des Fragens nistet sich in die Bilder, darauf wartend dechiffriert zu werden: was ist von der erwachsenen Sophie hinzugedichtet, was spekuliert, subjektiv verzerrt? Und vor allem: welche Wahrheit verbirgt sich in den sonnigen Urlaubserinnerungen?

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                  Spätestens am Ende ist Verhoeven kaum misszuverstehen, wenn das hässliche Gesicht des Showbusiness zum Vorschein kommt. Showgirls gehört zu den zynischsten Abrechnungen des Amerikanischen Traums, die von einem großen Hollywood-Studio je hervorgebracht wurden – und das mit einem beispiellosen inszenatorischen Aufwand, einer breiten Attacke der Sinne. Was der niederländische Provokateur hier auffährt ist gleichermaßen (selbst-)ironisches Spektakel und stilistische Überaffirmierung; Las Vegas als grelle Konsumhölle, in der Frauenkörper systematisch ausgebeutet werden im Dienste männlicher Schaulust. Die wahre Macht liegt schließlich bei den Männern, die im Hintergrund das Geschäft machen. Wer nach Sinnlichkeit oder Erotik sucht, ist ohnehin fehl am Platz. Hier ist alles Ware, Kapital und Trugbild.

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                    Radikales Schauspielerkino, in dem ein Regisseur (Harvey Keitel) von seinen Obsessionen privat wie beruflich beherrscht wird. Abel Ferrara knüpft an John Cassavetes und insbesondere »Opening Night« an. Seine Film-im-Film-Akteure (Madonna, James Russo) schickt er am Set eines schonungslosen Ehedramas durch die Hölle – an die Grenzen ihres Verstandes. Missbrauch ist zu beiden Seiten ein großes Thema. Ferraras Alter Ego ist, wie sollte es anders sein, der selbstzerstörerische, gepeinigte Auteur.
                    Im Gegensatz zu anderen Metafilmen übers Filmemachen (Le Mépris, Quer durch den Olivenhain) ist »Dangerous Game« eine unbeschönigt hässliche Dekonstruktion, die Fiktion und Realität, Inszenierung und Dokumentarismus verschwimmen lässt. An welchem Punkt geht Schauspiel über in reale Emotionen – oder erübrigt sich gar eine Trennung? Am Ende bleibt die rohe Gewalt der Performances, die gelegentlich Momente einer tiefen psychologischen Wahrheit hervorbringt. Film als geistiges Schlachtfeld, als negative Passion.

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                      OrdellRobbie 22.12.2022, 14:10 Geändert 22.12.2022, 14:15

                      „A heterosexual movie by Gregg Araki” – Was zuerst als lachhafter Witz im Vorspann aufblitzt, kehrt sich im Verlauf um. Natürlich hat der DIY-Rebell des New Queer Cinema keinen „heterosexuellen” Film geschaffen, denn hier floriert die Ambiguität der Identitäten, zumindest in seinem aufdringlich-grellen Pop-(Punk)-Ambiente. Gleichwohl aber ist die Polemik geglückt, wenn The Doom Generation das Hetero-Dasein im letzten Akt zum absoluten Schrecken auf Erden invertiert. Schmerzhafte Stroboskopeffekte, die amerikanische Flagge als nationalistisches Emblem und die penetrant-wuterfüllten Provokationen seines Kinos sind destilliert in der ausweglosen Darstellung von sexueller Gewalt. Dass die AIDS-Krise zu diesem Zeitpunkt immer noch hohe Opferzahlen verzeichnete, braucht sich nicht als reiner Subtext zu zieren.

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                        OrdellRobbie 04.10.2022, 01:00 Geändert 07.10.2022, 18:31
                        über Blond

                        Biographische Fiktion an der Schwelle zur Exploitation. Wo sich exzessives Melodram und surrealer Hollywood-Alptraum kurzschließen zu einem wahrhaftig subjektiven Horrorfilm.

                        „Blonde” ist in der Tat ein voyeuristischer Film, der intimste Einblicke in das Leben und vor allem das Leiden von Marilyn Monroe alias Norma Jeane ohne Rückhalt gewährt und bis an die Grenzen des Geschmacks ausreizt, um sich somit der Anteilnahme des Zuschauers sicher zu sein. Zuschauerschaft und sexualisierte Schaulust sind nicht zuletzt die Determinanten, die Monroe zur fragilen Ikone der Weiblichkeit machten. Das ‚Ausschlachten’ des Exzesses ist also immer auch Reflektieren des eigenen Standpunkts; der „schöne” Schein, der darin zwar fortlebt, aber nun mit einem düsteren Schatten vorangestellt werden muss.
                        Andrew Dominiks „Blonde” ist die positive Erweiterung eines Mythos, der sich an diesem Punkt nur noch fiktionalisieren lässt.

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                          OrdellRobbie 09.08.2022, 00:18 Geändert 09.08.2022, 00:23

                          In Vergessenheit geratener, vielfach übergangener Coming-of-Age-Film, der nunmehr seinen Platz als Kultfilm der 80er mehr als verdient hat. Dennis Hopper, der mit seinem letzten desaströsen Projekt „The Last Movie” (1971) von der Oberfläche verschwunden war, galt damals als abgeschrieben. Sein „Easy Rider” (1969) brannte noch hell als einer der ikonischen Wellenbrecher des amerikanischen Independent-Kinos; von der Ohnmacht der Hippiekultur und dem bürgerlich reaktionären Amerika auf der Gegenseite.

                          Out Of The Blue (1980) kann als dessen nicht minder nihilistische Fortsetzung gesehen werden, der in das finstere Herz der „no-future-Generation” vordringt. Getragen von einer ausweglosen Schwere, ist es die Jugendliche Linda Manz, die sich mit ihren maskulinen Posen und einer zutiefst gebrochenen Performance für immer ins Gedächtnis einbrennt. Elvis, ihr Idol, hat sie lange verlassen. Nur die Anarchie des Punk Rock bleibt ihr mit seiner fatalen Logik; das wiederholte infantile Aufbegehren gegen ihr Umfeld, das ihr keinerlei Halt verspricht, nur noch mehr Verwüstung. Ein Aufschrei.
                          “It's better to burn out than to fade away.”

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                            Mit der allgemeinen Fassbinder-Renaissance, die vor einiger Zeit einsetzte, werden seine Camp-Ästhetik und Douglas-Sirk-inspirierten Melodramen zunehmend aufgegriffen. Gerade weil sie ein aufgeklärt queeres Selbstverständnis und -bewusstssein zelebrieren, das auch in der Persona von Fassbinder seine Entsprechung einer ewigen Ikone findet: viel zu früh verstorben, enorm produktiv in TV, Film, Theater, ungeniert in seiner Sexualität und deren gewagter medialer Repräsentation.

                            Da kommt es schon einmal vor, dass manche Werke in Vergessenheit geraten. Die unscheinbare TV-Produktion (!) Angst vor der Angst (1975) etwa ist ein Psychothriller im Hitchcock-Stil, der Margit Carstensen als postpartal Depressive eine Abwärtsspirale gehen lässt und zeigt, wie ihr familiäres Umfeld darauf mit Unverständnis und Ablehnung reagiert. Fassbinder ist ein Meister der Mise-en-scène und besonders hier, einem so untypischen Paranoiakino, ist seine expressive Bildsprache ausgestellt; das Schärfenspiel, die Zooms, die konstante Bewegung der Kamera. Ein Film, der sich getrost neben „Marnie” einreihen darf.

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                              OrdellRobbie 13.03.2022, 23:15 Geändert 13.03.2022, 23:16
                              über Rapture

                              Ein Film über die alles verzehrende Macht des Kinos, Queerness und Drogenabhängigkeit. Arrebato ist ein persönlicher Exorzismus des spanischen Regisseurs Iván Zulueta, der ihm seine innersten Dämonen austreibt. Film ist hier einerseits Leidenschaft, Beruf (José) und Obsession (Pedro) in Gestalt von eigenen Zeitraffer-Experimenten à la Hollis Frampton. Jeder kennt ein anderes High, entweder durch den Schuss mit der Nadel oder die spasmische Verzückung („arrebato”) der Kamera. Das ist nicht nur ein ungemein innovativer metafiktionaler Horrorfilm, sondern eine wahrhaftig hypnotische Reise in das Medium Film selbst. Die „andere” Wirklichkeit des fotografierten Bildes, in das wir physisch eintreten können, das unser Blut aufsaugt wie ein Vampir. Ein echter Trip.

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                                Sicherlich antiquiert, was seine behäbige Erzählweise angeht, aber immer noch ungeheuer faszinierend und von finsterem Charme. Das erneute Aufeinandertreffen von ehemaligem Henker und Opfer im Wien der 1950er; sie (Charlotte Rampling) nun Gattin eines erfolgreichen amerikanischen Dirigenten, er (Dirk Bogarde) incognito als Nachtportier eines Nobelhotels. Der Beginn einer sonderbaren beziehungsähnlichen Abhängigkeit. Nur noch zwei schlafwandelnde Gestalten, die lediglich Zeichen, Wunden der Nazi-Vergangenheit darstellen, ihrer Identität beraubt. Liliana Cavanis kühles Melodram ist als ernstzunehmende Studie über Faschismus fragwürdig, aber das ist IL PORTIERE DI NOTTE zu keiner Zeit. Er reiht sich vielmehr nahtlos ein in die künstlerisch-symbolische Reflexion des Holocaust von linken Filmemacher:innen aus dem italienischen Kino der 70er; Bertoluccis »Der Konformist« und Viscontis »Die Verdammten«.

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                                  OrdellRobbie 18.10.2021, 20:40 Geändert 18.10.2021, 20:45
                                  über Titane

                                  Ein wahres Monster von einem Film. Der im Verlauf immer mehr Ideen einbringt, ständig „im Werden” begriffen ist, unabgeschlossen. Genau wie seine Hauptfigur, nie fertig geboren, gewaltbereit, aggressiv. Schwer zu greifen. Und doch intuitiv nachvollziehbar. Im zweiten Teil von Titane ändert er seine Richtung erneut, das Drehbuch ein eigenwilliger Gedankenstrom, der in alle Richtungen ausschlägt, um schließlich “verkörperlicht”, geboren zu werden, an den eigenen Ideen stetig zu wachsen. Deswegen erscheint eine bloße Nacherzählung der Story auch redundant. Ducournau nähert sich dem Körper auf drastische, dennoch emotiv-zerbrechliche Weise. Was bedeutet es, eine andere Geschlechtsidentität anzunehmen? Das ausgewiesene „Andere” zu sein? Titane ist ein Film voller Leid und Erlösung auf dem Weg zu einer neuen Menschlichkeit.

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                                    OrdellRobbie 08.09.2021, 19:02 Geändert 09.08.2022, 00:26

                                    Vergebung und Sühne. Süße Rache.
                                    Süß und verweiblicht ist sie in der Tat, wie eigentlich alles in Promising Young Woman. Angefangen bei den pinken Credits bis zu der vertrauten Popmusik als knallige Remixes: It‘s Raining Men ertönt anfangs als eingängige Partyhymne, später Britney Spears‘ Toxic in einer extrem fiesen Streicher-Variation. Promising Young Woman spielt mit dem Zuschauer ein nie gänzlich durchschaubares Spiel der tonalen Gegensätze, die nicht immer aufgehen mögen. Als (radikal)feministischer Rachethriller bringt er einiges auf den Punkt, gerade in seiner hochpolierten Überspitztheit. Das muss er sich erlauben dürfen (Subversion und so). Als cheesy Romanze stellt er sich bewusst (?) ein Bein.

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                                      OrdellRobbie 07.07.2021, 00:53 Geändert 09.08.2022, 00:32

                                      “Truth is the first casualty of war.”

                                      Mit dem kontroversen Redacted schließt sich gewissermaßen der Kreis in De Palmas Filmographie. Stilisierte Formspiele bildeten bis dahin sein Schaffen, hier übernimmt erneut die politische Figur DePalma (Casualties of War) die Oberhand. Sein Kino nähert sich dem des späten Godard an, seine Konstruiertheit aus Vignetten, Überwachungskameras und Fake-Dokumentaraufnahmen versteht sich als authentische „Inszenierung“ von wahren Ereignissen aus dem Irakkrieg. Die ungehemmt anti-amerikanische Grundhaltung des Films macht De Palma zu einem der verfemten und ja, verkannten Außenseitern des zeitgenössischen (Protest-)Kinos.

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                                        OrdellRobbie 10.05.2021, 17:12 Geändert 09.08.2022, 00:28

                                        Melodram epischen Ausmaßes, das in seiner überdimensionalen Ambition jeglichen Rahmen sprengt. Einmalig. Ein Mammutprojekt. Ein Essay über menschliches Scheitern. Menschlichkeit ganz grundsätzlich. Paul Thomas Andersons Magnolia verschlingt einen in seiner Wucht an Emotionen und Mut zur Verletzlichkeit. Für das was er ist, ist er aber einmalig und ein so seltenes Filmereignis, das es auf diese Weise nur selten in der Kinogeschichte gegeben hat (Altmans Ensemblekino stand offensichtlich Pate). Und ein Tom Cruise, der als frauenfeindlicher Sex-Prediger sein eigenes Image karikiert und mit seiner bis heute gewagtesten Schauspielrolle alles in Kauf nimmt, selbst psychologische Wahrhaftigkeit.

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                                          OrdellRobbie 25.03.2021, 17:31 Geändert 10.05.2021, 19:57

                                          Unfassbar, schwer in Worte zu fassendes Kunststück, das Claire Denis' elliptischen Stil zur Vollendung bringt. Nicht nur, dass es sich um eine als "unmöglich" geltende Adaption von Jean-Luc Nancy handelt, einen philosophischen Essay... L'intrus übernimmt wohlwollend das Fragmenthafte und schafft daraus nachhallende Bilder, lyrische Bewegungen über Grenzen hinweg - kontinental wie physisch - vom Juragebirge bis nach Tahiti. Andermal lässt sie Szenen wie Gedankenblitze oder einen Wachtraum hereinbrechen, zeigt endlos lange die Wellenbewegungen des Ozeans. Das tatsächlich Stattfindende bekommt bei Denis genauso viel Raum wie das Imaginierte, das Figurative (das fremde Herz als Eindringling im eigenen Körper) . Wie man L'intrus letztlich verstehen will, bleibt allerdings ganz offen. Das ist wahre Kunst.
                                          YOUR WORST ENEMIES ARE HIDING INSIDE, IN THE SHADOW, IN YOUR HEART.

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                                            OrdellRobbie 21.02.2021, 20:22 Geändert 07.07.2022, 15:54
                                            über Birth

                                            Birth erlaubt sich kein Urteil über die „Wahrhaftigkeit“ einer Reinkarnation des verstorbenen Ehemanns in Gestalt eines Kindes. Das macht ihn auch so unfassbar beengend. Jonathan Glazers Plots sind sehr ernstzunehmende Überlegungen, die ihre inhärente Absurdität schnell aufzuheben vermögen; Nicole Kidmans Figur – die hier nicht von ungefähr an Mia Farrow in „Rosemary's Baby“ erinnert – ist von der Begegnung mit Sean wie verwandelt. Bis zum Ende kommt sie hiervon nicht los, ob es nun wahr ist oder nur geschickt inszeniertes Blendwerk. Birth hat den wahren Wert von Mystery verstanden und offenbar von großen Meistern der konzentrierten Bildsprache gelernt.

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                                              McCABE & MRS. MILLER zeichnet Robert Altman als einen der großen amerikanischen Reformisten aus, der eine Art counter cinema entwirft, in dem er alte Erzähl- und Darstellungsformen für überholt erklärt. Gerade sein Schaffen in den 1970er-Jahren (des "New Hollywood") zeugt von diesem Bestreben.

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                                                OrdellRobbie 14.12.2020, 18:17 Geändert 14.12.2020, 18:18

                                                Brian De Palmas Filme sind auf so vielen Ebenen intellektuelle Reflexionen über das Kino selbst. In Blow Out greift er auf Antonioni (Blow-Up) und Coppola (The Conversation) zurück, filmische Vorläufer, die er seinem opernhaften Stil voll formvollendeter Vexierbilder unterordnet. Ein billiger Slasher-Film macht den Anfang, ein in Todesqualen hervorgebrachter Schrei das Ende, welches Fiktion und Realität perfekt vermischt. Im Gegensatz zu Godards Theorem (« le cinéma, c'est vingt-quatre fois la vérité par seconde ») blendet, verschleiert und verschachtelt De Palmas Kino die Wahrheit immerzu. Und das erfährt der Zuschauer von BLOW OUT aus erster Hand: dessen technische Manipulierbarkeit.

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                                                  OrdellRobbie 30.10.2020, 19:13 Geändert 31.10.2020, 21:47

                                                  “This is his country. He was born here. But it doesn’t like him.”

                                                  Claire Denis ist einer der interessantesten zeitgenössischen Filmemacherinnen, die ihrer Obsession Film wie einer gewissen Körpertheorie folgt. Ebenso ihre doppelte Heimat, hin und her mäandernd zwischen dem bequem-bourgeoisen Frankreich und der sonnengetränkten Härte im frankophonen Westafrika. Denis vermittelt wie keine andere die enorme Anziehungskraft dieses faszinierenden Kontinents durch Bilder, die gleichsam wie ein Strudel, den Zuschauer mitten in die postkolonialen Spannungen hineinwerfen. Dabei sind es gar nicht einmal die politischen Aussagen, die sich im Unterbewusstsein festsetzen - WHITE MATERIAL ist dann am eindringlichsten, wenn er seine erhöhte Sinnlichkeit ausstellt, von akzentuierten Körpern und brennend heißen Landschaften, wenn etwa Isabelle Hupperts feines Kleid im Wind flattert.

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                                                    OrdellRobbie 23.10.2020, 20:38 Geändert 15.03.2022, 02:01

                                                    Im Vergleich zu den beiden virtuosen Godfather-Teilen und dem epischen Apocalypse Now ist die Reputation von Francis Ford Coppolas THE CONVERSATION verschwindend klein. Unscheinbar-unaufgeregt inszeniert im kühnen Stil des New Hollywood als Studie eines Mannes in einem ethischen Dilemma, erschienen auf der Höhe nationaler Verwundbarkeit und Instabilität. Harry Caul (Gene Hackman) ist Abhörspezialist, der ein privates Gespräch auf offener Straße aufnimmt und darin ein Mordkomplott vermutet. Selbst abgeschottet von aller Welt, nimmt er seinen Beruf als das wahr, was es ist. Emotionslose Technologie ohne Gewissen, bloßer Informationstransfer, der jedoch sehr bald vom Gewissen heimgesucht wird. Dabei ist es gerade der Verzicht auf menschliche Nähe, der ihm zum Verhängnis wird, die Audioaufnahme zu interpretieren. Perspektivische Verfärbung und Paranoia - das Porträt eines Verlorenen. Ungemein dichter Thrill.

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